zur Erinnerung

Mauerfall 09.11.1989 - und was dann?

Frank Richter: "Die Geschichte gehört uns allen"

Für Sie berichtet Tino Moritz

Erschienen am 04.10.2019

Herbst '89 - Der Theologe über den Streit um einen Auftritt von Gregor Gysi in Leipzig

Dresden.
Zum 30. Jahrestag der Friedlichen Revolution wird am 9.Oktober in der Leipziger Peterskirche die neunte Sinfonie von Beethoven aufgeführt. In den Blickpunkt geriet die Veranstaltung vorab deshalb, weil vor dem Gedenkkonzert der Linke-Politiker Gregor Gysi zu Wort kommen soll. Ebenfalls mit dabei ist der Theologe Frank Richter. Mit ihm sprach Tino Moritz.

Frank Richter wird am 9. Oktober bei einer Veranstaltung in einer Leipziger Kirche sprechen - ebenso wie Gregor Gysi. Der Theologe kritisiert im Interview die Aufregung über dessen Auftritt. Frank Richter wird am 9. Oktober bei einer Veranstaltung in einer Leipziger Kirche sprechen - ebenso wie Gregor Gysi. Der Theologe kritisiert im Interview die Aufregung über dessen Auftritt.
Foto: Sebastian Kahnert/dpa/Archiv

Freie Presse: In Leipzig gibt es großen Zoff, weil die Philharmonie dort ausgerechnet Gregor Gysi für den 9. Oktober eingeladen hat, den einstigen SED/ PDS-Chef. Sie wurden nachträglich auch noch eingeladen - als ausgleichender Faktor?
Frank Richter: Mein Redebeitrag ist Ausdruck meiner Kritik an der Kritik, die der Leipziger Philharmonie entgegengeschlagen ist. Mit Gregor Gysi brauche ich mich nicht zu solidarisieren, das hat der auch nicht nötig, aber ich solidarisiere mich mit der Leipziger Philharmonie, die nach der Einladung an Gysi öffentlich unter Druck geraten war. Künstler sind in der Regel sehr sensibel, wenn es um Freiheit geht - Gottseidank!

Sie springen mit Ihrer Zusage nur der Philharmonie zur Seite?
Es ist abstrus, jemandem vorzuwerfen, die Solidarität der Bürgerrechtler aufgekündigt zu haben, weil er sich in der Nähe von Gregor Gysi aufhält. Ich wehre mich auch heute noch gegen das Schwarz-Weiß- und Gut-Böse-Denken. Bürgerrechtler sind ja auch keine homogene Gruppe. "Wer nicht für uns ist, ist gegen uns", war schon zu DDR-Zeiten ein totalitäres Prinzip. Ich konnte schon früher schlecht damit leben, wenn die Wahrnehmung der Rede- und Meinungsfreiheit öffentlich unter Druck geriet. Es ist erstens zu akzeptieren, zweitens interessant, drittens legitim und viertens eine Chance, dass Gregor Gysi auf Einladung der Philharmonie gerade am 9. Oktober in Leipzig spricht. Wie hätten wir uns 1989 gefreut, wenn ein hochrangiger SED-Politiker in eine Kirche gekommen wäre und sich der offenen Rede gestellt hätte! Ich erinnere auch daran, dass einige, wenn auch wenige SED-Mitglieder damals dazu beigetragen haben, dass die friedliche Revolution friedlich blieb. Zu den "Sechs von Leipzig", die am 9.Oktober zur Gewaltfreiheit aufgerufen hatten, gehörten ja auch drei Sekretäre der SED-Bezirksleitung.

Gysis Gegner halten schon die Einladung an ihn für zynisch ...
Die Leipziger sind so wie viele andere Menschen in der DDR im Oktober 1989 auch deshalb auf die Straße gegangen, um Meinungsfreiheit zu erkämpfen. Weder gibt es einen Tag noch einen Ort, an dem diese Meinungsfreiheit außer Kraft gesetzt werden darf. Das gilt auch für den 9. Oktober in Leipzig. Wenn eine private Initiative wie die Leipziger Philharmonie Gysi einlädt, verdient das uneingeschränkt Respekt. Ich kann daran nichts Zynisches erkennen. Zynisch kommen mir jene vor, die sich verhalten wie ein Wächterrat, die meinen, im alleinigen Besitz der historischen Wahrheit zu sein.

Womöglich war alles auch nur ein kommunikatives Missverständnis - Gregor Gysi war von Hubertus Knabe als offizieller Festredner am 9. Oktober angekündigt worden, was die Stadt Leipzig aber sofort dementierte.
Ich hatte den Vorgang zunächst gar nicht verfolgt. Ein Freund machte mich später darauf aufmerksam. In Leipzig gibt es viele Veranstaltungen zum Jahrestag, über diese Vielfalt freue ich mich. Die Aufregung um Gregor Gysi verstehe ich auch jetzt noch nicht: Wenn die 70.000 Menschen, die vor 30 Jahren um den Leipziger Ring gezogen sind, die Angst vor der Staatsmacht ablegen konnten, dann wird doch jetzt eine Stadt mit 500.000 Einwohnern keine Angst vor einer Rede von Gregor Gysi in einer Kirche haben müssen.

Wie erklären Sie sich den Protest gegen Gysi - immerhin haben mehr als 400 Menschen einen Offenen Brief unterschrieben, in dem von "Geschichtsvergessenheit" die Rede ist?
Mein Eindruck ist: Viele möchten die Gefühle des 9. Oktober 1989 wieder erfahren und auf eine bestimmte Weise konservieren. Das kann ich gut verstehen, denn es waren großartige Gefühle der Befreiung, des Mutes, der Solidarität. Auch ich möchte emotional aufgeladene Momente festhalten. Aber: Gefühle dürfen niemals gegen Grundrechte ins Feld geführt werden, auch wenn sie sich gegen einen früheren politischen Gegner richten. Die Freiheiten, die wir 1989 erkämpft haben, werden auch heute noch an ihren Grenzen verteidigt. Seit 1989 sind 30 Jahre vergangen. Ich finde es unerträglich, wenn ein Mensch darauf festgelegt wird, was er vor 30 Jahren getan hat. Jeder kann sich ändern. Ich finde es außerdem unerträglich, jemandem das Recht abzusprechen, sich in der Öffentlichkeit zu äußern, bevor man weiß, was derjenige überhaupt gesagt hat.

Sprechen Sie selbst eigentlich vor oder nach Gysi?
Ich kenne die Reihenfolge noch nicht, würde mich als Freund der freien Rede aber freuen, wenn der eine auf den anderen eingehen kann.

Der Bundestag hat jetzt den Weg dafür freigemacht, dass Sachsens Landtagsabgeordnete noch bis 2030 auf eine frühere Stasi-Tätigkeit geprüft werden können. Sie gehören dem Parlament seit Dienstag selbst an. Was löst diese Nachricht in Ihnen aus?
Was mich persönlich angeht, hat das gar keine Relevanz. Die Staatssicherheit sorgte schon dafür, dass ich das von mir als Schüler gewünschte Pädagogikstudium nicht antreten durfte. Im Herbst 1989 wurde ich dann observiert. Vieles in meiner Stasi-Akte ist einfach banal, manches tatsächlich verräterisch hinsichtlich des damaligen Repressionsapparates. Andererseits bin ich inzwischen schätzungsweise schon zehnmal auf eine - man muss es schon als Unterstellung ansehen - Stasi-Mitarbeit überprüft worden. Mir fehlt der Wille und die Idee, aus der Logik von Misstrauen und Überprüfung auszusteigen und in eine Logik der gesellschaftlichen Verständigung und des wechselseitigen Vertrauens umzusteigen. Den allermeisten Aufarbeitern fällt dazu nichts oder nur sehr wenig ein. Den Opfern des SED-Repressionsapparats gehört unsere Solidarität, uneingeschränkt. Ihnen gehört aber nicht die Geschichte. Die gehört uns allen.

Sie sind parteilos, sitzen aber für die SPD im Landtag. Welche Reaktionen gab es von den Genossen auf Ihren Auftritt mit Gysi?
Die sächsische SPD ist eine fleißige und verantwortungsvolle Partei. Sie hat aktuell andere Dinge zu tun, als sich damit zu beschäftigen, dass zwei Bürger dieses Landes gemeinsam in einer Veranstaltung auftreten.


Frank Richter

Der 59-Jährige gehörte vor 30 Jahren zu den Mitgründern der Dresdner "Gruppe der 20", die als Vertretung der Demonstranten Verhandlungen mit der Staatsmacht aufnahm. Von 2009 an leitete der Theologe für acht Jahre die Landeszentrale für politische Bildung. Bei der jüngsten Landtagswahl gelang ihm über die SPD-Landesliste der Einzug in das Parlament. Richter ist parteilos, seit er 2017 aus der CDU austrat.


FP vom 04.10.2019


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